Lore Hummels Enkel Kai und Richard Kürzinger haben in langen Jahren zum Leben und Werk Lore Hummels geforscht. Sie sind die Nachlassverwalter und Autoren des hier zur Verfügung gestellten Forschungsergebnisses des zeichnerischen und literarischen Erbes.
Die folgenden Texte sind ein Teil dieser Forschungsarbeit; geschrieben und bereitgestellt
von Kai Hummel und Richard Kürzinger.
von Kai Hummel und Richard Kürzinger.
Lore Hummel
Ein Leben in zwei Welten
von Kai Hummel und Richard Kürzinger
Immer bewegte Wolke
aus Schwalbenleibern,
auf- und niederwogend in milder Luft,
auseinanderstrebend,
sich wieder sammelnd,
gleichst du dem Leben,
dem ewig ruhelosen.
Lore Hummel
Lore Hummel wurde 1915 als Eleonore Elisabeth Maria Guske in Karlsruhe geboren. Wie ihre Eltern, Maria Maini und Fritz Guske, zueinander gefunden haben und warum es sie gerade ins Badische verschlagen hat, wissen wir nicht.
Maria Maini war in Familienverhältnissen aufgewachsen, die man heutzutage wohl als prekär bezeichnen würde. Ihr Vater entstammte einem Südtiroler Bergbauerngeschlecht. Als Nachgeborener war ihm ein Bauerndasein auf dem elterlichen Hof verwehrt. Nur sporadisch hatte er die Schule besucht, das Lesen und Schreiben nicht gelernt. So blieben ihm auch die Städte und größeren Orte drunten in den Tälern, wo man ein Handwerk hätte erlernen können, verschlossen. Dafür lockten auf der anderen Seite der Berge, weit im Norden, neue Industrien mit guter Arbeit und einem erträglichen und sicheren Einkommen. Die aufstrebenden Zechen an Lippe und Ruhr zogen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Tausende und Abertausende wie ihn an. Er verdingte sich dort als Bergmann und heiratete eine Einheimische. Zunächst verlief das Leben in geordneten Bahnen, Kinder wurden ihm geboren. Ein schweres Grubenunglück machte ihn zum Invaliden. Die Ehefrau musste in der Folgezeit die Familie ernähren. Mehrere Wohnortwechsel in kurzer Folge zeugen vom geringen Erfolg dieser Bemühungen. Dann starb der Bergmann, nur wenig über 40 Jahre alt. Die Frau und die Kinder blieben in bitterer Armut zurück. So schlug sich Maria Maini, von früher Jugend an auf sich selbst gestellt, mehr schlecht als recht durchs Leben. Sie brachte zwei Kinder zur Welt, einen Sohn und eine Tochter. Eine unverhoffte Wende zum Guten ergab sich, als sie ihren Ehemann kennenlernte.
Fritz Guske hatte seine familiären Wurzeln in Ostpreußen. Als Landarbeiter auf einem Rittergut bei Königsberg hatten die Vorfahren ein gedeihliches Auskommen gehabt. Der Vater hatte den Beruf des Schneiders erlernt. Seine Wanderschaft hatte ihn ins fränkische Kitzingen geführt, wo er die Tochter eines eingesessenen Meisters heiraten, das Geschäft übernehmen und das Bürgerrecht erlangen konnte. Fritz Guske war offensichtlich mit besonderen Begabungen ausgestattet und man verfügte über die nötigen Mittel, um ihm eine akademische Ausbildung angedeihen zu lassen. Er besuchte die technische Hochschule in München und schloss sein Studium als Ingenieur für Bau- und Vermessungswesen ab. Eine Anstellung bei einer großen Baufirma führte ihn nach Karlsruhe.
1914 wurde dort die Ehe von Maria Maini und Fritz Guske geschlossen. Die Tochter Hilde wurde in die Lebensgemeinschaft aufgenommen, der Sohn verblieb bei Verwandten im Ruhrgebiet. Anders als beim Großteil der Bevölkerung sind die Nachkriegsjahre in Karlsruhe für die junge Familie wirtschaftlich recht erfolgreich verlaufen. Der Ehemann konnte sich im Beruf etablieren, war als „Oberingenieur“ in leitender Funktion tätig und bezog ein entsprechendes Gehalt. Mit neu entwickelten Bauverfahren, die zum Patent angenommen wurden, brachte er es zu Wohlstand. 1923 wurde ihm eine Stelle als Gebietsdirektor einer international agierenden Bau- und Architekturfirma in Nürnberg angeboten und die Familie übersiedelte in die Frankenmetropole.
Dort suchte und fand man Anschluss an das städtische Großbürgertum. Man bezog eine standesgemäße Wohnung im Grundherrenschloss. Es gab fortan festliche Empfänge im großen Salon und Kammermusikabende im Musikzimmer, wo der Flügel stand. Man wurde Teil der Gesellschaft und nahm rege am gesellschaftlichen Leben teil. Die Mutter genoss diese Teilhabe in vollen Zügen, der Vater dagegen stand dem Treiben eher skeptisch gegenüber. Neben dem Personal, dem Chauffeur, der Köchin, dem Hausmädchen, dem Kinderfräulein und dem Gärtner, wohnte im Haus auch ein verarmter Kunstmaler. Er war Kriegsinvalide und hatte sich in Nürnberg mit Betteln durchgeschlagen. Fritz Guske hatte ihn aus Mitleid aufgenommen, hatte ihm kostenfrei Logis und Kost gewährt. Lore bewunderte ihn, weil er trotz seiner Behinderungen recht ansprechende Bilder malen konnte. Er erbot sich, sie das Zeichnen und Malen zu lehren, und sie nahm mit kindlicher Begeisterung und nimmermüdem Eifer seine Lektionen auf.
Dann ein erster schwerer Schicksalsschlag. Fritz Guske starb 1926, nach nur drei Jahren in Nürnberg und in seiner Stellung als Direktor. Er wurde nur 45 Jahre alt. Maria Guske verlor den Ehemann und den gesellschaftlichen Status, Lore den geliebten Vater. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter war von frühester Kindheit an schwierig gewesen und sollte es lebenslang bleiben. Ein tiefer Riss war durch die Familie gegangen, ein unüberwindbarer Graben hatte Lore und den Vater auf der einen von Hilde und der Mutter auf der anderen Seite getrennt. Hilde war zu der Zeit, als der Vater starb, schon im Internat bei den Englischen Fräulein in Altötting. Ein gedeihliches Miteinander von Lore und der Mutter war ohne die ausgleichende Autorität des Vaters und Ehemanns nicht möglich. So folgte Lore ihrer Schwester ins Internat in den oberbayerischen Wallfahrtsort. Der Abschied von Nürnberg ist ihr sicher nicht schwergefallen.
Noch bevor Lore die Handelsschule abgeschlossen hatte, starb ihre Schwester. Lore kehrte nach Abschluss der Schulausbildung nach Nürnberg zurück und nahm eine Stelle als Kontoristin an. Die Spannungen mit der Mutter blieben. Wohl eher, um sich deren Einfluss zu entziehen, denn aus wahrer Liebe heiratete Lore 1937 den Berufssoldaten Franz Hummel. Der stammte aus dem niederbayerischen Kelheim und war zu dieser Zeit auf dem Fliegerhorst Lechfeld südlich von Augsburg stationiert. Lore bezog mit ihrem Mann eine Wohnung in Lagerlechfeld. Dort kam 1939 auch ihr Sohn Franz jun. zur Welt. 1944 musste der zivile Wohnbereich des Flugplatzes geräumt werden, weil die massiven Fliegerangriffe der Alliierten einen sicheren Aufenthalt unmöglich machten. Lore fand mit dem Sohn bei einer Schwester ihres Mannes in Altmannstein Unterschlupf. Wenige Monate vor Kriegsende musste sie dort ihre Mutter aufnehmen, nachdem deren Wohnung in Nürnberg bei einem Bombardement völlig zerstört worden war. Das Schambachtal, dort wo die Zeit nicht so schnell verging wie andernorts, sollte nicht nur Aufenthalt, es sollte ihr Heimat werden.
Das Einleben in die neue Umgebung, die Integration in den biederen Marktflecken gelang den beiden Frauen nie wirklich. Maria Guske war einen gewissen Lebensstil gewohnt, erwartete Beachtung, ja Respekt von ihrer Umgebung. Beides blieb ihr in Altmannstein versagt, stattdessen erntete sie Misstrauen und Geringschätzung. Sie war eine Frau im fortgeschrittenen Lebensalter, Witwe seit vielen Jahren. Hier in der ländlichen Oberpfalz erwartete man von einer wie ihr, dass sie schwarz ging und sich in der Öffentlichkeit zurückhielt. Aber das tat die ehemalige Direktorengattin nun wahrlich nicht, ganz im Gegenteil. Sie kleidete sich modisch und trat selbstbewusst, ja anmaßend auf. Sie konnte ihren bourgeoisen Dünkel nicht ablegen, sie sah auf die in ihren Augen schlichten Gemüter herab. Lore fand sich etwas besser zurecht. Sie arbeitete anfangs in der Gemeindeverwaltung als Schreibkraft und widmete sich in ihrer Freizeit ihren Passionen, der Malerei und dem Geschichtenschreiben. In die ersten Altmannsteiner Jahre reichten auch Freundschaften zurück, die sie ihr Leben lang pflegen sollte.
Trotzdem blieb auch Lore eine Fremde im Ort, eine Außenseiterin, ein Paradiesvogel. Gleich nach der Rückkehr ihres Mannes aus der Kriegsgefangenschaft, ließ sie sich von ihm scheiden. Es war von Anfang an keine Liebesbeziehung gewesen und die Kriegsjahre hatten sie einander nicht näherbringen können. Nun wollte sie frei sein für die Kunst! In Altmannstein grenzte sie das weiter aus. Verrat an den Idealen von Vaterland und Familie, so Volkes Stimme. Nimmt dem Buben den Vater. Schmiert mit Farben herum und erzählt Kindergeschichten, statt einer anständigen Arbeit nachzugehen (Die Stelle bei der Gemeinde hatte sie aufgegeben.). Schickt den Buben ins Internat, statt ihn ein solides Handwerk lernen zu lassen. Und raucht. Wundert alles keinen bei der spinnerten Alten. Da fehlt halt einfach der Mann. Der Spießbürger sah sich in seinen Vorurteilen voll und ganz bestätigt.
Am Ende des Krieges konnte Lore ihrer neuen Heimatgemeinde einen großen Dienst erweisen. Der Einmarsch der Amerikaner stand bevor, der Bürgermeister wollte in seiner Hilflosigkeit und Verzweiflung an den Ortszufahrten Straßensperren errichten. Lore riet davon ab, wohl weil sie sich der Sinnlosigkeit eines solchen Tuns mehr bewusst war als die Herren der Marktverwaltung. Und sie ging mit der weißen Fahne in der Hand an der Spitze einer Abordnung den anrückenden Soldaten entgegen. Man hatte sie darum gebeten, weil keiner außer ihr der englischen Sprache mächtig war.
Lore war eine intelligente, gebildete Frau. Was sie zusätzlich suspekt machte. Es war nicht einfach, in dem ländlichen Umfeld gleichgesinnte und angemessene Gesprächspartner zu finden, Menschen, die ihre Liebe zu den Schönen Künsten teilten. Menschen, die ihrem Bildungsniveau entsprachen auch.
Da war der Ortspfarrer, ein kunstsinniger Mann. Er hatte maßgeblichen Anteil daran, dass dem großen Sohn des Ortes, Ignatz Günther, der ihm gebührende Platz in der Kunstgeschichte zuteilwurde. Mit ihm tauschte sie sich regelmäßig aus, sie waren einander in Freundschaft und kritischer Begleitung verbunden. Dabei war gerade der Pfarrer ein überraschender Freud. Lore stand der Kirche zweifelnd bis offen ablehnend gegenüber. Ihre Skepsis, ihr Misstrauen zielten auf die Amtskirche und deren Institutionen und wohl auch auf einzelne Personen. Sie betrafen aber nicht den Glauben an sich. Sie war eine tief religiöse Frau. Anders sind ihre vielen Oster- und Weihnachtsgeschichten und -bilder nicht zu erklären. Und vor allem ihre Bücher mit den Kindergebeten sprechen eine eindeutige Sprache. Hätte ihre Ablehnung auch Glaubensinhalte betroffen, hätte sie sicher andere Betätigungsfelder gefunden. An Phantasie hat es ihr nicht gefehlt und ein Andienern an eine kirchliche Klientel um des bloßen Geschäftserfolgs willen ist völlig auszuschließen. Dafür war sie zu konsequent im Ausleben ihrer Überzeugungen und zu wenig opportunistisch.
Freundschaftliche Beziehungen unterhielt Lore auch zum örtlichen Doktor. Als Akademiker wird er ein adäquater Gesellschafter gewesen sein. Allzu viele davon gab es am Wohnort ja nicht. Dieser Landarzt war Toni Leix, der Sohn der großen bayerischen Dichterin Lena Christ. Lore wird wohl – und das nicht ganz von ungefähr – Parallelen zwischen sich selbst und der Mutter des Freundes gesehen haben.
Der Abgeschiedenheit des Wohnortes entfloh die Familie bei einem alljährlichen Urlaubsaufenthalt in Oberammergau. Auch das etwas, was in Altmannstein mit Kopfschütteln begleitet wurde. Wer fuhr in den Nachkriegsjahren schon in Urlaub? Das Hotel Alte Post im Passionsspielort, wo die Familie residierte, war der Sammelpunkt eines illustren Kreises, der den eigenen intellektuellen und künstlerischen Ansprüchen genügte. Hier verkehrten Maler und Poeten, an und mit denen Lore wuchs. Und namhafte Musiker, Komponisten, Dirigenten, Leute die dem jungen talentierten Franz Wege wiesen und Türen öffneten zu einer eigenen großen Karriere. Schauspieler waren da, Künstler jeglicher Couleur, in der Alten Post traf sich die Bohème. Aus den Besuchen erwuchsen lebenslange Freundschaften und insbesondere eine innige Verbundenheit mit der Besitzerfamilie Preisinger.
Lore blieb in Altmannstein wohnen. Die Ruhe und Beschaulichkeit des stillen Schambachtals mögen ihr Kraft gegeben haben, mögen ihr Inspiration gewesen sein. Großen Einfluss auf ihre Entwicklung in den frühen Schaffensjahren hatte Wolfgang Felten. Der Münchner Maler und Poet war Lore gleichermaßen fördernder Künstlerfreund wie kritischer Begleiter. Mit ihm traf sie sich häufig und regelmäßig. Er starb 1963 völlig unerwartet im Alter von nur 49 Jahren. Lore führte ihr Werk auch in seinem Sinne fort. Sie illustrierte in mannigfachen Ausführungen die gängigen Märchen der Brüder Grimm und die bekannten Erzählungen von Hans Christian Andersen, stattete Sammelbände von Liedern, Gedichten, Abzählreimen und Geschichten mit Bildern aus. Sie verfasste eigenständige Kinderbücher, die anfangs in der Reihe der Mainzer Künstler-Bilderbücher im Engelbert Dessart Verlag erschienen. Ihre phantasievollen Wichtel- und Zwergengeschichten spielen inmitten einer personifizierten Tier- und Pflanzenwelt und stehen in der Tradition von Ernst Kreidolf und Fritz Baumgarten. Über 150 Titel sind es geworden.
Für den Haering Verlag in München entwarf Lore tausende von Postkartenmotiven. Mit den ebenfalls dort verausgabten Adventskalendern traf sie nicht nur den Zeitgeschmack, sie rührte offensichtlich an ein weit verbreitetes Grundempfinden. Seit über 70 Jahren sind diese Bildwerke unverändert auf dem Markt und finden immer noch Gefallen.
Lores Markenzeichen sind ihre Kinder- und Blumenbilder. Sie hat sie in zahllosen Variationen und in verschiedenen Techniken geschaffen. Manche Motive wie der so charakteristische Kasperl finden sich schon in den wenigen erhaltenen Werken aus ihrer Schulzeit. Sie hat sie zu allen erdenklichen Anlässen an Nachbarn, Bekannte und Freunde verschenkt. Die Kinderbilder und ihre formale Nähe zu den Werken von Lores Namensschwester, der bekannten Klosterfrau und Designerin Maria Innocentia Hummel, haben ihr auch den Weg zu Goebel geebnet. Die Porzellanfabrik vertrieb mit großem Erfolg die berühmten Hummelfiguren. Lores Entwürfe wurden bei Goebel von Modelleuren in Porzellanfiguren transformiert, dem etablierten Figurenprogramm beigestellt und vor allem in den Vereinigten Staaten vermarktet. Um Verwechslungen zwischen und Irritationen um die beiden namensgleichen Künstlerinnen zu vermeiden, wurde das Label Lore ersonnen. Lore hat in der Folgezeit auch die Grafiken, die nicht für Goebel bestimmt waren, einfach mit Lore signiert, während sie davor ihren vollen Namen oder ihre Initialen verwendet hatte.
Eine robuste Physis ermöglichte Lore ein uneingeschränktes Schaffen bis ins hohe Alter. Dann erlitt sie einen Schlaganfall, von dem sie sich nicht mehr erholen sollte. Sie starb 1997 in Neustadt an der Donau während des Aufenthalts in einer Reha-Einrichtung. Eine schlichte, und unscheinbare Grabplatte auf dem Friedhof in Altmannstein erinnert an Lore Hummel.
Einfach, bescheiden und zurückgezogen hatte sie dort gelebt. Verkannt in ihrem Heimatort. Ihre Freunde, den Pfarrer und den Doktor, haben sie die Ehrenbürgerwürde verliehen. Dass sie auch eine veritable Kandidatin für diese Auszeichnung in ihren Reihen haben könnten, ist den Verantwortlichen sicher nie in den Sinn gekommen. Und Lore hätte wohl auch nicht den geringsten Wert darauf gelegt. Sie hat kein Aufhebens um die eigene Person gemacht, ist eher in der Rolle der dienenden Idealistin aufgegangen. Hat das Wohl von Mutter und Sohn über eigenes Wollen und Wünschen gestellt. Dem Goebel-Vertreter hat sie persönlich aufgekocht bei den Arbeitsbesuchen. Dabei ist sie eine moderne, selbstbewusste Frau gewesen, alleinerziehende Mutter und freischaffende Künstlerin, unbeirrbar auf dem Weg aus der Tradition in die Emanzipation.
In der heilen Welt des Kindseins, die sie in ihren Werken festhielt, ist sie zuhause gewesen und gleichermaßen in der harten Realität mit den beschwerlichen, oft bedrückenden persönlichen Lebensumständen. Eine Wanderin ist sie gewesen zwischen Bourgeoisie und Dorfbeschaulichkeit, zwischen Provinzidyll und Bohème. Zuhause gewesen ist sie hier wie dort, wirklich daheim wohl nirgendwo. Ein nicht alltägliches Frauenschicksal, ein Leben in zwei Welten: Lore Hummel.
Kai Hummel und Richard Kürzinger
Lore Hummel
Die Schattenfrau
von Kai Hummel und Richard Kürzinger
Denn die einen sind im Dunkeln
und die andern sind im Licht,
und man siehet die im Lichte
die im Dunkeln sieht man nicht.
Bertolt Brecht, Dreigroschenoper
Zu Anfang der 1960-er Jahre weilte ein Vertreter der Porzellanfirma Goebel geschäftlich in München. Er besuchte Läden, die Haushaltswaren und Geschenkartikel verkauften, um ihnen die neuen Kollektionen seines Arbeitgebers vorzustellen. Und hatte ein Déjà-vu-Erlebnis! Ein wesentlicher Bestandteil seines Angebots neben den Gebrauchsporzellanen war eine Serie von kleinen Porzellanfiguren, die sich in den Zeiten des beginnenden Wirtschaftswunders außerordentlicher Beliebtheit erfreuten und ihrem Hersteller zu bedeutenden Umsätzen verhalfen, die sogenannten Hummelfiguren. Sie wurden von Goebel nach Zeichnungen der Klosterschwester Maria Innocentia Hummel gefertigt. Die Nonne war 1946 gestorben, zur Vermarktung ihres Nachlasses aufgrund von vertraglichen Vereinbarungen exklusiv Goebel berechtigt. Und nun stand der Handlungsreisende in einem Münchner Geschäft plötzlich vor einem ganzen Stapel von Zeichnungen, die augenscheinlich von der Klosterfrau stammten und auch noch mit ihrem Familiennamen signiert waren. Sie lagen dort für wenig Geld zum Verkauf. Verscherbelte das Kloster hinter dem Rücken von Goebel Hummel-Bilder? Das wäre Vertragsbruch. Oder war ein dreister Fälscher am Werk, der mit dem Namen der bekannten Künstlerin Kasse machen wollte? Der Goebel-Mann informierte umgehend seinen Arbeitgeber.
Die Sache klärte sich bald auf. Im oberpfälzischen Altmannstein lebte eine Malerin und Dichterin namens Lore Hummel. Sie war nur wenig jünger als Maria Innocentia Hummel und trotz des gleichen Familiennamens mit der Ordensfrau weder verwandt noch verschwägert. Schwerpunkt ihrer Arbeit waren das Schreiben und Illustrieren von Kinderbüchern. Daneben schuf sie lange Bilderserien, die Blumen und Kinder zum Thema hatten. Gerade Letztere wiesen eine frappierende Ähnlichkeit mit entsprechenden Bildern der Namensvetterin auf. Die Kinder der beiden Künstlerinnen, von Kritikern als wasserköpfige, klumpfüßige Wichtel abqualifiziert, waren nahezu gegenseitig austauschbar und bei oberflächlicher Betrachtung kaum voneinander zu scheiden. Lore Hummel legte ihre Bilder in verschiedenen Münchner Geschäften aus, wo sie in Kommission für sie verkauft wurden. Mit dem Erlös finanzierte sie Studienaufenthalte in der Universitätsstadt.
Also kein Betrug und keine Fälschungen! Doch damit ergab sich für die Porzellanfirma ein weiteres Problem. Wenn die Konkurrenz auf Lore Hummel aufmerksam würde und sie unter Vertrag nähme, könnte auch Bareuther oder Schumann oder wer auch immer Hummel-Figuren auf den Markt werfen. Das würde Irritationen bei der Kundschaft hervorrufen. Unvermeidbar wäre ein Rechtsstreit um Namen- und Markenrechte. Der könnte sich hinziehen und viel Geld und noch mehr Sympathien in den Sammlerkreisen figürlichen Porzellans kosten. Um all dem aus dem Weg zu gehen, band man Lore Hummel kurzerhand via Vertrag an sich selbst.
Zuallererst wurde ihr der Verzicht auf die Verwendung des Familiennamens bei all ihren künftigen einschlägigen Arbeiten und Aktivitäten abgenötigt und das Label Lore auferlegt. Sie stimmte nolens volens zu. Noch in der Festschrift zum 125-jährigen Firmenjubiläum 1996 wurde die Künstlerin der Leserschaft unter ihrem Mädchennamen Lore Guske vorgestellt. Mit der Tilgung des Namens war für Goebel das primäre Ziel erreicht, war die Strategie der Schadensabwehr durch Vorwärtsverteidigung aufgegangen.
So recht wusste man bei dem Porzellanhersteller aber nicht, was man mit der Künstlerin denn anfangen sollte. Man beauftragte sie mit Entwurfszeichnungen für Madonnen, Engel und Weihwasserkessel, die man nur recht zögerlich umsetzte. Wohl hat man vereinzelt Musterstücke angefertigt, in den Verkauf gebracht hat man nichts von alledem. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Lore Hummel auch Entwürfe für Gebrauchsgeschirre geliefert hat, für Kannen, Schalen. Kerzenhalter, Aschenbecher und anderes mehr. Doch sollte dies bloße Beschäftigungstherapie für sie bleiben, auch von diesen Objekten wurde keines je produziert.
Dann hat man Lore doch in ihrem eigentlichen Betätigungsfeld agieren lassen. Wohl mehr auf hartnäckiges Drängen der Künstlerin denn auf Wunsch von Goebel hin setzte man sich fortan ernsthaft mit ihren Vorlagen für Kinderfiguren auseinander. Viele hundert Motive haben sich erhalten, von denen nur ein ganz geringer Bruchteil das Wohlwollen des Auftraggebers fand und auch tatsächlich gefertigt wurde.
Goebel nahm zunächst eine Figurenreihe in sein Programm auf, die im Preissegment über den Hummelfiguren positioniert wurde, die sogenannten Blumenkinder. Sie sind aufwendig ausgestaltet und bestechen vor allem durch ihre feinen, filigranen Blumen- und Blütenapplikationen. Man hatte mit ihnen – wie die englischsprachigen Bodenmarken zeigen – vor allem den US-amerikanischen Markt im Blick. In sieben Editionen wurden von 1966 an insgesamt 58 Motive verausgabt, jedes Motiv war auf 2000 Stück limitiert. Daneben wurden auch weiße Exemplare in unbekannter Stückzahl in den Handel gebracht. Auffallend ist, dass die Kinder im Laufe der Jahre „wuchsen“. Erreichten stehende Figuren früher Motive gerade 15 cm, so waren späte Ausgaben bis über 20 cm hoch. Die unterschiedlichen Postamente, die bei den verschiedenen Editionen Verwendung fanden, tragen dazu kaum bei. Es waren in der Tat die Kinder selbst, die merklich an Größe gewannen. Goebel hat am Ende mit Prototypen experimentiert, bei denen die Kinder sogar über 30 cm groß waren; zur Serienreife sind sie nicht gelangt.
Bei der Wahl der Bezeichnung bewies Goebel keine glückliche Hand. Mit Blumenkindern verband man in Deutschland kaum heimelige, niedliche Kinderfiguren. Ganz im Gegenteil. In den 1960-er Jahren war aus den Vereinigten Staaten eine Jugendbewegung herüber geschwappt, die einen radikalen Bruch mit den gängigen Lebens- und Moralvorstellungen vollzog. Ihre Anhänger, die Hippies oder eben Blumenkinder, sahen den Weg in eine friedlichere und humanere Welt in freier Liebe und legalem Drogenkonsum. Es war die Zeit von „Flower Power“ und „Make Love, not War“, es war die Zeit des legendären Woodstock-Festivals. In diesem Zeitgeist wurde Goebel mit seinen Lore-Figuren geradezu zum Inbegriff von Spießigkeit und Rückständigkeit.
Dazu kamen Klagen und Beschwerden aus dem Kundenkreis ob der mangelnden Robustheit der Figuren. Sie waren viel empfindlicher als die Hummelfiguren, die feinen Blattspitzen der oft opulenten Blumenverzierungen brachen leicht ab. Goebel reagierte auf die Kundenkritik, die Reihe der Blumenkinder wurde 1980 eingestellt. Fortgesetzt wurde das Lore-Programm bis 1984 mit zwei Kleinserien von jeweils zwölf Figuren. Kinderland präsentiert Kinder mit ländlich-bäuerlichem Gebaren, Weihnachten im Kinderland zeigt sie in einem Krippenspiel. Die Motive sind in der Ausführung deutlich einfacher und kleiner als die Blumenkinder, sie sind robust und weitgehend resistent gegen Beschädigungen.
Neben den Heerscharen von Hummel-Figuren nimmt sich die Zahl der von Goebel tatsächlich verausgabten Lore-Figuren mit 82 Motiven recht bescheiden aus. Gegen die übermächtige Konkurrenz im eigenen Hause konnte die Altmannsteinerin einfach nicht bestehen. Auf der anderen Seite nahm Lore über viele, viele Jahre hinweg an einem monatlichen Treffen bei Goebel teil, das als „Produktgespräch“ bezeichnet wurde. In diesem Gremium wurde von den Verantwortlichen der verschiedenen Fachbereiche, angefangen bei Geschäftsleitung, Marketing und Vertrieb, über Design, Modellierung und Formenbau, bis hin zu Gießerei und Malerei das gesamte Figurenprogramm diskutiert. Hier wurde festgelegt, was wann und in welcher Form entwickelt, gefertigt und vertrieben wurde. Lore hat dort das Geschehen aus der Sicht der Künstlerin und Designerin begleitet. Zwar blieb sie mit ihren eigenen, den Lore-Modellen weit hinter denen des Goebel-Renners Hummelfiguren und weit hinter ihren eigenen Möglichkeiten und Erwartungen zurück. Doch nahm sie den Platz ein, den Goebel ursprünglich wohl Maria Innocentia Hummel zugedacht hatte. Der frühe Tod der Klosterfrau und die Beobachtung des Handlungsreisenden in München haben es gefügt. Und Lore Hummel hat die Rolle angenommen, die ihr einzig verblieb in dieser Ménage-à-trois, die Rolle der Schattenfrau.
Kai Hummel und Richard Kürzinger